Achtzig Jahre Machtübergabe an den Faschismus

Teil I - Darmstadt war vorne dabei

Am 30. Januar 2013 jährt sich zum achtzigsten Mal die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. In siehsmaso wollen wir aus diesem Anlass in einer Artikelserie darstellen, wie sich dieser Prozess nicht nur auf der Ebene des Reiches darstellte, sondern auch wie er sich konkret in Darmstadt vollzog. Die Informationen zu Darmstadt sind dem Buch "Das Jahr 1933. NSDAP-Machtergreifung in Darmstadt und Volksstaat Hessen" von Henner Pingel, Darmstadt 1978, entnommen.

Der Soziologe Seymour Martin Lipset bezeichnete den Faschismus als den "Extremismus der Mitte". Damit wollte er die Tatsache erklären, dass der Faschismus in Deutschland und Italien sich vor allem aus der Mitte der Gesellschaft entwickelte. Angesichts der ab 1929 akut werdenden Wirtschaftskrise waren es die Anhänger_innen der in der "politischen Mitte" verorteten Parteien, die in Massen zu den Nazis überliefen. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel Darmstadt besonders gut aufzeigen.

Die Mittelschichten hatten in Darmstadt eine große Bedeutung. Die Stadt war damals auch Regierungssitz des Volksstaates Hessen und vor allem eine Behörden- und Beamtenstadt. Während hessenweit über vierzig Prozent der Beschäftigten in Industrie und Handwerk arbeiteten, waren es in Darmstadt nur 30,9 Prozent. Überproportional war hingegen der Anteil der im Handel und im Dienstleistungssektor tätigen Menschen. Während hier im hessischen Durchschnitt nur 22,8 Prozent der Erwerbstätigen arbeiteten, waren es in Darmstadt 43,4 Prozent. Die Arbeiterschaft hingegen spielte in Darmstadt eine geringere Rolle. Anders sah es in den später eingemeindeten Vororten Eberstadt und Arheilgen aus. Dort waren mehr Menschen in Handwerk und Industrie beschäftigt, und die Arbeiterparteien hatten größere Stimmenanteile.

Aufstieg der NSDAP und Niedergang des Liberalismus

Entsprechend hoch waren in Darmstadt vor der Wirtschaftskrise bei Wahlen die Stimmenanteile der liberalen Parteien DVP und DDP. Sie erhielten nach Prozenten noch 1928 etwa doppelt soviel Stimmen wie im Reichsdurchschnitt. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise gingen die Stimmen für diese Parteien jedoch beständig zurück und 1932 waren sie schon nahezu bedeutungslos. Die Angst vor den Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs weckte im Mittelstand, aber auch beim Großkapital erhebliche Zweifel an der parlamentarischen Demokratie. Langwierige Regierungsbildungen und Rücksicht auf parteipolitische Interessen waren Gegenstand der Kritik. Gustav Stresemann, ein führender Politiker der DVP, brachte diese Stimmung im Februar 1929 auf den Punkt: "Der Wettstreit der Parteien und die Popularitätshascherei müssen aufhören", sagte er in einer Rede vor dem Zentralausschuss seiner Partei. Er trat für eine Einschränkung der Rechte des Parlaments ein und wollte die Befugnisse des Reichspräsidenten erweitern. Mit derartigen Aussagen konnten bürgerliche Politiker allerdings nicht den Niedergang ihrer Parteien aufhalten. Sie trugen damit aber zur Demontage der Weimarer Republik bei und bereiteten so aber dem Faschismus den Weg.

Parallel zum Niedergang der bürgerlich-demokratischen Parteien vollzog sich der Aufstieg der NSDAP. Sie galt als unverbrauchte, außerhalb des "Systems" stehende Kraft, die am radikalsten mit dem Parlamentarismus zu brechen versprach. Verängstigte Wähler der "Mitte" strömten deshalb dieser Partei zu. Die Arbeiterbewegung war nicht stark genug, um relevante Teile dieser Schicht an sich binden zu können. Auch aus den Darmstädter Wahlergebnissen lässt sich ablesen, dass die NSDAP ihre Zuwächse fast ausschließlich dem Niedergang von DNVP, DVP und DDP zu verdanken hat. Von den Parteien der bürgerlichen Mitte vermochte lediglich das katholische Zentrum seinen Stimmenanteil zu halten.

Nur wenige Stimmen konnte die NSDAP hingegen aus dem Lager der Arbeiterbewegung erhalten. Auch am Darmstädter Beispiel zeigt sich, dass der Stimmenanteil von SPD und KPD zusammen ziemlich konstant blieb (siehe nebenstehende Tabelle, bitte anklicken). Verschiebungen gab es hauptsächlich innerhalb des Lagers, das in Summe stets um die 35 Prozent erhielt. Die Verluste der SPD an die KPD erklären sich durch das Verhalten der Sozialdemokraten: Entgegen ihrer Wahlversprechen stimmten sie 1928 für den Bau eines Panzerkreuzers und tolerierten die Regierung des rechten Zentrumspolitikers Brüning, welche in großem Umfang den Sozialabbau vorantrieb und damit zur Verarmung vieler Arbeiterfamilien beitrug. Die SPD war bis zum Schluss auf Koalitionen mit Parteien der bürgerlichen Mitte fixiert, und ihr blieb so nichts anderes übrig als diesen auf ihrem Weg nach rechts hinterherzulaufen.

Hitler wird Reichskanzler

Bei den Reichstagswahlen im November 1932 wurde die NSDAP sowohl im Reich als auch in Darmstadt stärkste Partei. Gegenüber den Wahlen vier Monate vorher musste sie allerdings deutliche Verluste hinnehmen. Am Ergebnis wird allerdings deutlich, dass Darmstadt mit seiner von Mittelschichten geprägten Sozialstruktur eine ausgesprochene Hochburg der Nazis war: Während die Partei auf Reichsebene nur 33,1 Prozent erreichte, waren es in Darmstadt trotz der Verluste noch 40,9  Prozent.

Die Verluste der NSDAP wurden von vielen liberalen aber auch linken Kräften überinterpretiert. So schrieb etwa die "Frankfurter Zeitung": "Die härteste Notzeit Deutschlands ist überwunden, und der Weg aufwärts ist nunmehr frei […] Der gewaltige nationalistische Angriff auf den Staat ist abgeschlagen."  Nur wenige erkannten, dass mit dem Fortbestand der Wirtschaftskrise und der Unfähigkeit der Arbeiterparteien zu gemeinsamen Aktionen der Boden für die Nazis fruchtbar blieb. Ungeachtet der Wahlergebnisse setzten sich die Vertreter der Schwerindustrie besonders vehement für eine Beteiligung der Nazis an der Regierung ein. Die Herrschaft des Großkapitals ist im Rahmen des Parlamentarismus nur solange möglich, als es ihm gelingt, relevanten Teilen des Mittelstandes und auch der Lohnabhängigen eine Entwicklungsperspektive zu bieten und sie so in dieses System einzubinden. Durch die Weltwirtschaftskrise war dieser Politik der Boden entzogen. Das Programm des Großkapitals war Sozialabbau, Schwächung der Gewerkschaften und Kampf gegen die "marxistische Gefahr". Um dieses Programm durchzusetzen, war es notwendig, die Form der Herrschaft zu ändern und zur offenen Diktatur überzugehen.

Lipsets Theorie vom "Extremismus der Mitte" suggeriert, die Mittelschichten seien die alleinigen Anhänger des Faschismus gewesen. Dies stimmt soweit es um die Massenbasis geht. Doch wäre eine Machtübernahme der Nazis ohne politische und finanzielle Unterstützung durch die Vertreter der Großindustrie nicht möglich gewesen.

Die vom Reichspräsident eingesetzten Präsidialkabinette konnten die politische Krise nicht überwinden. Weder der im Juli 1932 eingesetzte von Papen noch der im Dezember zum Reichskanzler ernannte von Schleicher konnten eine stabile parlamentarische  Mehrheit hinter sich bringen. Als von Schleicher von seinem Amt zurücktrat, wurde am 30.Januar 1933 Adolf Hitler zu seinem Nachfolger ernannt. Die Ernennung erfolgte ausgerechnet durch Hindenburg, dessen Wahl zum Reichspräsidenten die SPD im April 1932 unterstütze. Als Grund wurde angegeben, damit die Wahl Hitlers verhindern zu können. Hindenburg war Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg, überzeugter Monarchist und konnte sich nie richtig mit der Weimarer Republik anfreunden. Er vertrat die "Dolchstoßlegende", wonach das deutsche Heer nicht besiegt worden sei, sondern durch "Vaterlandsverräter", also durch Kriegsgegner und streikende Arbeiter_innen um den Sieg gebracht worden sei. Die Unterstützung ausgerechnet Hindenburgs als eine Art "antifaschistisches Bollwerk" durch die Sozialdemokratie zeigt, wie sehr diese Partei politisch am Ende war.

Der 30. Januar in Darmstadt

Als den Nazis am 30.Januar 1933 die Macht übergeben wurde, war die Weimarer Republik nur noch eine leere Hülle. Das Parlament war handlungsunfähig, regiert wurde durch präsidiale Notverordnungen. Die sozialdemokratische Regierung in Preußen wurde im Juli 1932 auf Beschluss der Regierung Papen durch die Reichswehr abgesetzt und die faschistischen Schlägertrupps hatten vielerorts freien Hand.

Wie in ganz Deutschland wurde auch in Darmstadt die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler  von seinen Anhänger_innen begeistert gefeiert. Zahlreiche Häuser wurden durch Hakenkreuzfahnen geschmückt, wie das Darmstädter Tagblatt berichtete. Aber auch bürgerliche Kräfte begrüßten die Machtübergabe an die NSDAP. So auch die DVP in ihrer Wochenzeitschrift "Hessischer Beobachter": "Wir freuen uns, dass der Nationalsozialismus zur Herrschaft kam (...) Ja wir wünschen sogar, dass der Regierung Erfolg beschieden wird, weil der Misserfolg nicht für sie, sondern für die Nation todbringend sein müsste; denn eine Hitlerregierung, die nicht vorankommt (...) bedeutet vermehrte Verzweiflung, vollendete Hoffnungslosigkeit, Stärkung der nihilistischen Gefühle, also des Bolschewismus" (HB, 5.2.1933). Auch das Darmstädter Tagblatt bejahte grundsätzlich die neue Regierung, machte sich aber auch noch Illusionen über die Bindung an die Verfassung: "Er kommt nicht als Diktator, sondern als Reichskanzler, und ist zunächst an den Versuch einer parlamentarischen Mehrheit gebunden. Er hat, wie alle Kabinettsmitglieder, den Eid auf die Verfassung am Montag bereits geleistet." (DT 31.1.1933) .

Anders waren die Reaktionen in der Arbeiterschaft. Die Darmstädter Zeitung berichtete: "Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler hatte schon am Nachmittag zu beträchtlichen Ansammlungen in der Rheinstraße vor den Zeitungsaushängen geführt. Mit Demonstrationen begannen die Kommunisten, die um 17 Uhr auf dem Schillerplatz eine Kundgebung abhielten. Am Abend waren die Fußsteige der Rheinstraße dicht von einer harrenden Menge gefüllt, da Demonstrationen der Nationalisten und der Eisernen Front angekündigt waren. Während die Nationalsozialisten nach dem Marienplatz marschierten, wo sich der Zug auflöste, bewegte sich der Zug der Eisernen Front, dem sich auch die Kommunisten anschlossen, durch die Altstadt und das Nordviertel." (HZ, 31.1.1933). Der "Hessische Volksfreund", die Zeitung der SPD berichtete: "Das bis zu dieser Stunde in Parteien und Gruppen zerklüftete Proletariat, das allen Mahnungen zum Trotz in dieser Spaltung verharrte, es kam überraschend schnell zur Besinnung. Das Wort "Hitler wird Reichskanzler" brachte alle zur Besinnung und zur Einsicht, dass nur noch eins helfen kann: Die Geschlossenheit und Einheit des Proletariats." (HV 31.1.1933).

Doch hatte die Ernennung Hitlers trotz dieser hehren Worte keine weitergehende Einheit der Arbeiterbewegung zur Folge. Noch auf der Kundgebung am 30.1. riefen die Führer der SPD und der Gewerkschaften dazu auf "kaltes Blut zu behalten und Disziplin zu wahren". Die SPD hielt weitergehende Aktionen erst dann für sinnvoll, wenn die neue Regierung "den Boden der Verfassung verlassen" würde. Unbedachte und voreilige Aktionen könnten den Nazis hingegen den Vorwand liefern für das Verbot von Partei und Gewerkschaften.

Die KPD hingegen richtete an den Parteivorstand der SPD und an die Gewerkschaften den Vorschlag, gemeinsam zu einem Generalstreik aufzurufen. Der Aufruf wurde von den Führungen abgelehnt. Allerdings konnte die Partei auch in der Mitgliedschaft von SPD und Gewerkschaften keine große Resonanz finden, da sie weiterhin – wenn auch etwas abgeschwächt - an der Sozialfaschismus-Theorie festhielt. Die SPD war demnach nur eine Variante des Faschismus und ebenso zu bekämpfen wie die NSDAP.

Die KPD hielt auch in Darmstadt täglich Kundgebungen ab, um gegen die Reichsregierung zu protestieren. Bezeichnend ist es, dass die unter sozialdemokratischer Führung stehende Polizei das Verteilen dieses Streikaufrufs verbot. Bei einer Demonstration wurden sogar zwei Personen verhaftet, weil sie den Reichskanzler "beleidigt" hätten. Die Arbeiterbewegung konnte so der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler keinen ernsthaften Widerstand  entgegenstellen. Sie blieb passiv und konnte daran auch dann nichts ändern, als die faschistische Diktatur mit voller Wucht zuschlug. Da Darmstadt eine Hochburg der "Bewegung" war, geschah dies hier schneller und brutaler als in anderen Städten.

Über die Festigung und den Ausbau der faschistischen Diktatur in Darmstadt werden wir im zweiten Teil der Artikelserie berichten.

Reinhard Raika
25.01.2013