"Wann, wenn nicht jetzt?"

Interview mit Reinhard Treue zu den aktuellen Flüchtlingsprotesten

Reinhard Treue arbeitet seit 1993 aktiv mit in verschiedenen antirassistischen Gruppierungen, welche die Selbstorganisation und die  Aktionen von Flüchtlingen mit und   ohne Aufenthaltsberechtigung unterstützen. Er engagiert sich von Anfang an im Netzwerk „Kein Mensch ist illegal“.

 


Siehsmaso:
Seit etwa einem Jahr gibt es vielfältige Aktionen von Flüchtlingen. Welche Aktionen gibt es und um was geht es dabei?

Reinhard Treue:
Der Ursprung der derzeitigen Flüchtlingsproteste, die jetzt schon über ein Jahr anhalten, ist Würzburg. Dort sind iranische Flüchtlinge aus ihren Lagern weggegangen, haben sich auf einen öffentlichen Platz begeben und ihre Forderungen gestellt: Abschaffung der Residenzpflicht, kein Lagerleben, keine Gutscheine und keine Arbeitsverbote. Eine weitere Forderung bezog sich auf die Bearbeitung der Asylanträge. Die Flüchtlinge wurden nämlich hingehalten, es wurde nichts entschieden. Das war bedingt durch den rassistischen Diskurs zu den Roma aus Mazedonien und Montenegro. Das Innenministerium hat die Anweisung gegeben, nur noch diese Anträge zu bearbeiten, und alle anderen sind liegen geblieben. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ein iranischer Freund von ihnen hat sich im Lager umgebracht. Das war der Zündfunken und dann sind die auf die Straße gegangen. Das mündete dann im „Break Isolation“ Camp in Erfurt, wo sich alte und neue selbstorganisierte Flüchtlingsgruppen getroffen haben: Die Karawane , The Voice , diverse migrantische Gruppen aus der Region nahmen daran teil. Dort wurde auch der Marsch nach Berlin und die Buskarawane geplant und beschlossen. Unterstützt wurden diese Aktionen von lokalen Aktivistinnen und Aktivisten und von den bundesweiten antirassistischen Strukturen, die sich da eingebracht  und auch die Diskussion und die Entwicklung der Aktionen mitgetragen haben. Der Marsch nach Berlin kam am Oranienplatz an, der seither besetzt ist. Über Winter wurde eine leer stehende Schule in Berlin-Kreuzberg in Nähe des Oranienplatzes als Schlafort besetzt. Sie konnten für diese Besetzung bis Ende März eine Duldung  durchsetzen, die jetzt verlängert wurde. Aber das ist nicht nur ein Schlafraum, das ist auch ein Schutzraum und der ist ständig bedroht. So gab es Anfang April eine Razzia und es gibt immer wieder Kontrollen, auch um dem Oranienplatz oder einzelne Aktivist*innen werden mit Repressalien bedroht . Als die Karawane in Berlin ankam, gab es eine Demonstration mit einer beeindruckenden Zahl, was auch Mut und Hoffnung gemacht hat. Das hat viele inspiriert weiterzumachen und diesen kalten Berliner Winter durchzustehen. In dieser Zeit wurde immer politisch inhaltlich gearbeitet. Es war kein Ausruhen. Und das soll diesen Frühjahr natürlich dahin münden, das sich die Aktivitäten verdichten auch auf der lokalen und regionalen Ebene.

Siehsmaso:
Mir scheint, dass bei diesen Aktionen die Flüchtlinge ihre Sache selbst in die Hand nehmen, während früher hierbei die Gruppen der Unterstützerinnen und Unterstützer eine wichtigere Rolle spielten. Kannst du diese Entwicklung erklären? 

Reinhard Treue:
Die Stärke entsteht daraus, dass es schon lange Jahre Strukturen der Selbstorganisation gibt. In den neunziger Jahren gründete sich THE VOICE und die Karawane, die zur Bundestagswahl 1998 eine Karawane gemacht hat. Das sind die Ursprünge der beiden selbstorganisierten Gruppen und auch die Ursprünge unserer Zusammenarbeit mit ihnen. Eine gewisse Rolle hat bestimmt auch der „arabische Frühling“ gespielt. Dabei wurde deutlich, dass sich auch noch so verkrustete Verhältnisse aufbrechen lassen, dass die sich stürzen lassen. Und das macht Mut. Die Menschen, die kämpfen, lassen sich inspirieren von Kämpfen die international stattfinden.  Es gibt seit ein paar Jahren seitens der antirassistischen Bewegung, die bundesweit vernetzt ist, Kontakte in die Herkunftsländer, beispielsweise nach Tunesien oder Mali. „Wann wenn nicht jetzt“ – so sehen das Viele. Das sehe ich auch an Freunden, die jetzt ziehen, anstatt geschoben  werden zu müssen. Das erklärt sich aus vielen Faktoren und lässt sich nicht immer auf einen Punkt bringen, aber wir sollten auf jeden Fall den jetzigen Zeitpunkt nutzen, um das Thema präsenter zu machen.
 

Siehsmaso:
Gab es Reaktionen der Politik auf die Aktionen und Forderungen der Flüchtlingsbewegung?
 

Reinhard Treue:
Es gab einerseits Repressionen gegen die Aktiven, es gab aber auch Zuckerbrötchen. Hier in Hessen wurde zum Beispiel die Residenzpflicht abgeschafft.Wenn man kämpft, nimmt man das natürlich erfreut hin, aber es reicht nicht. Es muss weiter gehen. Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille, beispielsweise in Thüringen im Falle von Olesia und Miloud Cherif
, einem algerischen/urkrainischen Flüchtlingspaar beide aktiv bei The Voice. Ihnen droht die Abschiebung, weil Cherif sich im Kampf gegen die Residenzpflicht befindet und 62 Euro zahlen soll, weil er die Residenzpflicht verletzt hat.  Er soll für also Geld für das  Vorenthalten eines Grundrechts bezahlen, dazu ist er nicht bereit. 
Da ist einerseits Hessen, andererseits Thüringen, wo es schon immer härter war und wo es auch die strikteste Residenzpflicht gibt, die sich auf den jeweiligen Landkreis bezieht und wo es nicht möglich ist im zwei Kilometer entfernten Dorf einzukaufen.
 

Siehsmaso:
Welche Gruppen gibt es hier in der Region, die diese Aktionen unterstützen?
 

Reinhard Treue:
Es gibt lokale Gruppen unterschiedlicher Art, also hier in Darmstadt zum Beispiel AGIS , „Kein Mensch ist illegal“ oder das Halkevi . Wir arbeiten zusammen, nicht nur als deutsche Aktivisten, auch mit den Flüchtlingen und Migrant*innen, die wir zum Teil schon jahrelang kennen. Wir machen gemeinsam Veranstaltungen, auch weil wir die Nähe suchen zu den Leuten, die einen internationalistischen Ansatz haben.
Regional gibt es das „Aktionsbündnis gegen Abschiebung Rhein-Main“. Wir treffen uns monatlich und planen politische Aktionen. Wir beteiligen uns an den Blockupy-Aktionen oder dem 1.Mai in FFM und machen in diesem Rahmen am 27. Mai eine erste Aktion mit den Flughafengegner*innen am Flughafen.  Dann gibt es aber auch noch die Tierrechtler, die am Flughafen etwas machen  wegen der Tiertransporte. Es ist ja schon absurd, dass es für Tiere  mehr Hindernisse  bei Transporten gibt als bei der Abschiebung von Menschen.
Ein Ziel der Aktivitäten ist das Containerlager in Oberursel, es war einst das letzte in Hessen, jetzt gibt es aber zwei neue, eins in Friedberg und ein geplantes in Schwalbach. Der Kampf für bessere Lebensbedingungen ist wichtiger denn je. Die Flüchtlingszahlen steigen und die Politik tut auf einmal ganz überrascht, wo die auf einmal alle herkommen. Kerneuropa sollte flüchtlingsfrei gehalten werden, aber das schaffen sie nicht. Jetzt brechen schon die Ränder Europas weg. Das Grenzregime wird mit und durch FRONTEX militarisiert.
In Darmstadt hatten wir eine Veranstaltung, mit der wir versucht hatten, die alte und die neue Flüchtlingsselbstorganisation zusammenzubringen. Wir wollten den Aktiven eine Möglichkeit geben ihre  - auch unterschiedlichen - Positionen darzulegen und auch lokal die politisch Interessierten anzusprechen, um am Prozess der Vernetzung teilzunehmen und um zu erfahren, worum es geht, was getan werden muss. Wir sehen, dass es Forderungen gibt, die weit über die bloße Abschaffung der Residenzpflicht hinausgehen. Das sind wichtige Trittsteine im Kampf, aber es geht um mehr, und das ist auch im Kampf zu spüren.
 

Siehsmaso:
Sind weitere Aktionen geplant?

Reinhard Treue:
Es sind weitere Aktionen geplant. Wie bereits erwähnt, werden wir im Rahmen der Blockupy-Aktionen am Flughafen sein, um dort den „Deportation Airport“ zu brandmarken. Ein Schwerpunkt sind die sog. Sammelcharter durch AIR BERLIN.
Es geht darum, zu skandalisieren, wie der Staat mit den Flüchtlingen umgeht. Das ist nämlich ein Skandal. Es kann nicht sein, dass ein hochentwickeltes Land so rückschrittlich ist.
Wir akzeptieren das nicht. Nicht in unserer Zeit. 
Überregional läuft die Refugees Liberation Bus Tour im Südwesten (Bayern, BaWÜ) und mündet im Juni in einem Refugee Tribunal vereint gegen das koloniale Unrecht in Berlin.  
Das wird ein Ort sein, wo sich die Flüchtlinge treffen werden und wo der Prozess der Organisierung weiter gehen wird. Auch wir als deutsche Aktivist*innen werden dort sein und die Verknüpfungen werden fortgesetzt werden können. Wir wollen den Prozess aufrecht erhalten und Teil der Struktur sein. Solche Orte sind auch wichtig, um unterschiedliche Meinungen austragen zu können. Denn es gibt auch Konflikte innerhalb der Bewegung, und da ist es wichtig, sich beim gemeinsamen Kochen und Essen, Feiern und Protestieren  alltäglich zu begegnen.

weiterführende Links:

www.thecaravan.org
www.thevoiceforum.org
http://kompass.antira.info

www.refugeetribunal.org/

 

siehsmaso / Reinhard Treue
29.04.2013
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