Wenn die Arbeiterklasse rechts wählt…

Buchbesprechung: Didier Eribon, Rückkehr nach Reims

In Deutschland haben wir bei den letzten Landtagswahlen erlebt, wie traditionelle Arbeiterbezirke, einstige Hochburgen der SPD, von der AfD erobert werden konnten. So geschehen etwa im nördlichen Wahlkreis von Mannheim . Noch dramatischer ist die Hinwendung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu rechten Parteien  in Frankreich oder Italien. Hier gab es „rote Hochburgen“, in denen nicht nur links gewählt wurde, sie waren auch Schauplatz politisch bedeutsamer Arbeitskämpfe mit langanhaltenden Streiks und Fabrikbesetzungen. Linke Kulturorganisationen sorgten auch in der Freizeit für einen Zusammenhalt der arbeitenden Menschen. Heute müssen wir jedoch feststellen, dass auch hier das Bewusstsein einer „Klasse für sich“ verlorengegangen ist, rassistische und nationalistische Ressentiments die Oberhand gewonnen haben.

Wie es dazu kommen konnte ist unter anderem Thema im Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon. Eribon ist heute angesehener Soziologieprofessor in Frankreich, stammt aber aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Das Milieu, in dem er aufwuchs, war geprägt von der PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs. Hier wählten die Menschen nicht nur kommunistisch, sie fühlten sich als Kommunistinnen und Kommunisten, auch dann, wenn sich nicht sonderlich stark mit Politik beschäftigten. „Für meine Familie teilte sich die Welt in zwei Lager. Entweder man war ‚‘für die Arbeiter‘ oder man war gegen sie, entweder man ‚‘verteidigte‘ die Arbeiter oder man tat nichts für sie“. Diese Haltung war nicht unbedingt Ausdruck eines politischen Klassenbewusstseins: „Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.

Und schon in seiner Jugendzeit, in den siebziger Jahren, musste er feststellen, dass es in diesem Spektrum neben dem Klassengegensatz eine weitere Differenzierung zwischen „ihnen“ und „uns“ gab:  die Unterscheidung zwischen „dem französischen Arbeiter“ und den Immigranten. Von letzteren wurde stets abfällig geredet und ihnen gegenüber gab es jede Menge Vorurteile. Doch wurden diese damals noch nicht politisch relevant. Auch sexistische Ressentiments seien weit verbreitet gewesen.

Eribon besuchte als erstes aus seiner Familie ein Gymnasium und entfernte sich danach immer stärker vom Elternhaus und ihrem Milieu. Als er seine Homosexualität entdeckte, war es für ihn unmöglich dort weiter zu leben. So schnell wie möglich zog er zum Studium nach Paris, wo er seine Neigung ausleben konnte. In seinen journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten befasste er sich hauptsächlich mit philosophischen Fragen und schrieb zur sexuellen Unterdrückung und zur „minoritären Subjektivität“. Vom Marxismus entfernte er sich, da für ihn nur der Klassengegensatz zähle und alles andere „Nebenwidersprüche“ seien[1]. Schon früh hatte er die Kraft, selbstbewusst  zu seinem Schwulsein zu stehen.

In seinem Pariser intellektuellen Milieu verspürte er jedoch eine andere Scham: Seine soziale Herkunft war ihm äußerst peinlich. Entsprechenden Fragen wich er immer aus und er sollte noch lange „vor Scham erröten“, wenn für einen offiziellen Vorgang eine Geburtsurkunde vorlegen musste, auf der als Berufe der Eltern Hilfsarbeiter und Putzfrau vermerkt waren. Kontakte zu seiner Familie hatte er so gut wie keine mehr. Das änderte sich erst nach dem Tod seines Vaters. Er besuchte fortan öfters seine Mutter und erfuhr von ihr ihm bis dahin unbekannte Einzelheiten aus ihrem Leben, das nicht nur von Armut geprägt war, sondern auch reich an Demütigungen. Das vorliegende Buch ist insofern auch ein zweites „Coming-Out“. Er entdeckte nun wieder die Bedeutung der sozialen Frage und der Klassengegensätze für die Sozialwissenschaften. Mit seiner Mutter erörterte er die Familiengeschichte und aktuelle Fragen. Dabei musste er feststellen, wie sehr sich die politische Ausrichtung seiner Familie und ihres Umfelds geändert hatte. Aus niemals zweifelnden Wählern der PCF wurden Wähler des Front National, auch wenn sie dies im Gegensatz zu früher nur widerstrebend zugeben. Eribon versucht in seinem Buch auch, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen.

Eine Ursache sieht er im Verhalten der Linksparteien an der Macht. (Die PCF bildete mehrmals gemeinsam mit der Sozialistischen Partei die Regierung). Sie übernahmen nicht nur die Politik der bürgerlichen Parteien, sondern auch deren Ideologie und Phraseologie. Begriffe wie „Selbstverantwortung“ wurden modern und die Arbeiterbewegung wurde als archaischer Rest einer längst überholten Vergangenheit dargestellt. 2002 habe ein alter Sozialist seine Parteifreunde sogar daran erinnern müssen, dass „Arbeiter“ kein Schimpfwort ist.

Ob die auch in der Arbeiterschaft vorhandenen rassistischen und sexistischen Vorurteile politisch relevant werden können, hänge aber von deren Alltagserfahrungen ab: „ob zum Beispiel am Arbeitsplatz die praktische Solidarität überwiegt oder die Angst vor der Konkurrenz um den eigenen Job, ob man sich dem informellen Elternnetzwerk einer Schule zugehörig fühlt oder an den alltäglichen Schwierigkeiten in einem „Problemviertel“ verzweifelt.“  So gab es im Pariser Mai 1968 den Slogan „Französische Arbeiter, eingewanderte Arbeiter: gleicher Boss, gleicher Kampf“, und diese Parole habe das Verhalten auch in vielen späteren lokalen Streiks bestimmt. In solchen Situationen verlaufe die Grenze zwischen den Streikenden auf der einen Seite, den Unternehmern und Streikbrechern auf der anderen Seite. Auf dieser Basis könne Solidarität entstehen

Wo solche Erfahrungen jedoch fehlen, und die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Kapital vereinzelt gegenüber stehen, treten die „niederen Empfindungen“ in den Vordergrund. Im Jargon des Soziologen schreibt er: „Wenn die Linke die Mobilisierbarkeit aus dem Selbstwahrnehmungshorizont der Gruppe löscht, dann rekonstruiert diese sich anhand eines anderen, diesmal nationalen Prinzips, anhand der Selbstwahrnehmung als „legitime“ Population eines Territoriums, das einem scheinbar weggenommen wird und von dem man sich vertrieben fühlt“.

Eribon sieht hier verschiedene Sichtweisen, die soziale Realität zu begreifen und beide schließen sich seiner Meinung nach nicht immer aus. Deshalb ist es für ihn durchaus denkbar, dass sich in Zukunft ein Teil der Wählerschaft des Front National einer radikaleren Linken zuwendet. Das bedeutet für ihn keineswegs, linksradikal und rechtsradikal auf eine Ebene zu stellen.[2] Wer das tut, will sich seiner Meinung nach  reflexartig die „Definitionshoheit über legitime Politik durch den Vorwurf des ‚Populismus‘ sichern“.

Um zu einer solchen Neuorientierung zu kommen, seien jedoch einschneidende Ereignisse wie umfangreiche Streiks und Demonstrationen notwendig. Denn „so leicht löst man sich nicht von einem politischen Lager, in dem man sich mit der Zeit, und sei es voller Zweifel und Unsicherheiten, eingerichtet hat (….) Dazu bedarf es veränderter Selbst- und Fremdbezüge, neuer Sichtweisen auf die Welt und die Dinge des Lebens“.

Eribons Buch ist eine interessante Autobiographie und beschreibt die außergewöhnliche Entwicklung eines schwulen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen in der französischen Provinz zu einem angesehenen Professor. Gleichzeitig versucht er Antworten auf die hochaktuelle Frage, warum nicht nur in Frankreich die einst eindeutig links eingestellte Arbeiterschaft heute zu rechtspopulistischen Parteien tendiert.

 

[1] Als Gymnasiast war Eribon in einer trotzkistischen Gruppe aktiv. Auch dies bedeutete schon eine Distanzierung vom Elternhaus.

[2] Genau das ist jedoch das Resümee einer Besprechung von Eribons Buch in der Frankfurter Rundschau vom 19.11.2016 durch Michaela Maria Müller.

Reinhard Raika
25.11.2016