"Nur Gerechtigkeit schafft Frieden. Und das fehlt einfach."

Interview mit Johannes Borgetto vom Israel-Palästina Solidaritätskreis

Johannes Borgetto ist heute im „Unruhestand“. Davor war er zwanzig Jahre in der Studentenseelsorge tätig und dann dreizehn Jahre bei der Caritas in der Beratung von Migranten und Flüchtlingen. Ehrenamtlich befasst er sich nach wie vor mit dem interreligiösen Dialog, ist aktiv in der Flüchtlingsarbeit und im „Israel-Palästina Solidaritätskreis“. Letzteres brachte ihm den Vorwurf der „Einseitigkeit“ ein, von der jüdischen Gemeinde und von israelfreundlichen Gruppierungen und in der Folge auch von seinem früheren Arbeitgeber.

Kontakt: j.borgetto@online.de

 

Frage: Herr Borgetto, in einer Diskussion zum Gaza-Krieg habe ich folgenden Satz gehört: „Johannes Borgetto? Das ist doch ganz klar ein Antisemit!“ Wie stehen Sie dazu?
 

J. Borgetto: Wer ist ein Antisemit? Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren dem Herrn Moritz Neumann von der jüdischen Gemeinde in Darmstadt einen Brief geschrieben hatte, in dem ich ihm dargelegt habe, dass Antisemiten Menschen sind, die pauschal eine Einstellung gegen Juden haben. Antizionisten sind Menschen, die hart die Politik Israels kritisieren. Antizionisten und Post-Zionisten gibt es auch unter den Juden in Israel. Und dann gibt es noch die Antikolonialisten, die entschieden gegen die israelische Besatzungspolitik sind. Das sind die drei Kategorien, die wir haben, und ich bin mir keiner Schuld bewusst, pauschal gegen Juden zu sein.
 

Frage: Wie würden Sie sich nach diesen Kategorien einschätzen?

J.Borgetto: Auf jeden Fall als kompromissloser Gegner der Besatzung, der Besetzung dessen, was jenseits der grünen Linie liegt, die von 1948 bis 1967 faktisch eine international anerkannte Grenze war. Und ich bin ein entschiedener Kritiker der israelischen Politik, was vielen nicht schmeckt, auch meinem früheren Arbeitgeber nicht. Gerade erst hat eine Gruppe von 43 Soldaten aus der Eliteeinheit 8200 des militärischen Geheimdienstes öffentlich gemacht, dass sie ab sofort dem Besatzungsregime nicht mehr zu Verfügung stehen. Das sind für mich die wahren Helden in Israel. Und das sind diejenigen, die Menschen wie Abed Schokry auf der anderen Seite helfen, nicht in Hass zu versinken. Die 43 kritisieren in ihrem Brief an die Regierung, dass für die Armee Palästinenser keine Menschen mehr sind, sondern nur noch „Ziele“. Sie sind diejenigen, die die „Ehre“ Israels retten. Sie sind die Freunde ihres Landes, wie ich mich ebenfalls zu den Freunden Israels zähle. Freunde sagen sich die Wahrheit und pflegen kein verlogenes Mitläufertum. Prof. Stöhr, prominenter Theologe im christlich-jüdischen Dialog, hat einmal die unkritischen Mitläufer eines „subtilen Antisemitismus“ bezichtigt.

Frage: Was glauben Sie, woher der Vorwurf des Antisemitismus kommt?

J.Borgetto: Harte Kritik an der Politik des Staates Israel wird häufig missverstanden als eine Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel. Aber das ist nicht mein Problem. Der Staat Israel existiert und wurde von der UN auf die Landkarte gesetzt. Das akzeptiere ich. Aber es wurde auch ein palästinensischer Staat auf die Landkarte gesetzt, und dafür trete ich ein. Es gibt viel zu viele Menschen – jüdische und nichtjüdische – die das Judentum und den Staat Israel als Einheit sehen. Das sind für mich aber zwei verschiedene paar Schuhe. Die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“, die sowohl in Amerika als auch in Europa aktiv ist und sich als antizionistisch versteht, würde mir hier klar zustimmen. Ich habe lange gebraucht, um eine solch radikale Kritik an Israel formulieren zu können. Ich habe als guter Deutscher mit einem fünfmonatigen Arbeitsaufenthalt im Kibbuz angefangen. Das war 1975. Dabei hatte ich das Glück – oder auch das Pech – gleichzeitig mit der palästinensischen Seite in Kontakt zu kommen. Ich kannte einen palästinensischen Studenten, der mit mir in Frankfurt studierte und zur gleichen Zeit sein Dorf besuchte, das fünf Kilometer Luftlinie aber zwanzig Kilometer Landstraße vom Kibbuz entfernt lag. Trotz dieser Nähe waren das völlig getrennte Welten ohne jeglichen Kontakt. Die palästinensische Seite kannte nicht einmal den Namen des Kibbuz, nur den Namen des alten arabischen Dorfes, das früher auf dem Land des Kibbuz existierte. Und die Israelis warnten uns vor Kontakten, da dies ein Risiko sei. Das reizte uns dann natürlich erst recht. Ich bin dann immer gependelt, habe beide Seiten kennengelernt und die Antworten der einen Seite immer der anderen Seite als Frage gestellt. So war ich schnell vertraut mit den dortigen Strukturen. Trotzdem habe ich für meine heutige Position über 30 Jahre Beschäftigung mit dem Israel/Palästina Konflikt gebraucht. Auch in mir steckte lange die „Schamstarre“ vor der christlichen und deutschen Geschichte.

Frage: Sie haben in Darmstadt den „Israel Palästina Solidaritätskreis“ mit gegründet. Was sind Eure Aktivitäten?
 

J.Borgetto: Wir haben 1979 angefangen, so lange bin ich in Darmstadt. Der Kreis hat zwanzig Jahre im Rahmen der Katholischen Hochschulgemeinde gearbeitet, dann hat er noch kurze Zeit im Rahmen der Caritas existiert. Die Führung des Caritasverbandes hat dies allerdings untersagt, weil sie sich gegenüber der jüdischen Gemeinde keiner Kritik aussetzen wollte. Deshalb mussten wir dort aufhören und haben uns andernorts getroffen. Wir haben angefangen mit Austauschbegegnungen, wir haben mehrere studentische Reisen nach Israel und Palästina gemacht. Dabei haben wir immer Wert darauf gelegt, dass wir dort mit beiden Seiten reden, mit palästinensischen und jüdischen Israelis. So stand ich auch schon 1975 unterstützend an der Wiege des Dorfes „Neve Schalom / Wahat al Salam“ (Oase des Friedens), das ganz bewusst von Israelis jüdischer und arabischer Abstammung gemeinsam aufgebaut wurde. Das Zusammenleben dort klappt bis heute gut, auch wenn es natürlich Konflikte gibt, wenn sich die politische Lage zuspitzt. In der Schule gibt es eine bikulturelle (jüdisch und arabisch) und trireligiöse (jüdisch, christlich und islamisch) Erziehung. Dies führte anfangs zu Problemen der Anerkennung durch den israelischen Staat, da dies nicht vorgesehen war. Ich unterstützte das Projekt im Rahmen meiner Arbeit bei pax christi (internationale katholische Friedensbewegung) und 27 Jahre als Vorstandsmitglied des deutschen Freundeskreises der „Oase des Friedens“. Mir war immer daran gelegen, dass sich beide Seiten verständigen und gemeinsam Auswege suchen. Schon daran kann man erkennen, dass ich kein Antisemit sein kann, nicht mal ein richtiger Anti-Zionist. Ich schätze die Richtung des „Kulturzionismus“ Buber’scher Prägung sehr, den in den vorstaatlichen Zeiten auch Prominente wie der damalige Präsident der Hebräischen Universität, Judah L. Magnes, vertraten. Sie haben damals schon vor ideologisch fixierten Verengungen und vor schweren Kollisionen mit der arabischen Bevölkerung gewarnt.
Wir haben darüber hinaus immer wieder Leute zu Veranstaltungen eingeladen, die für eine Verständigung eintreten. So z.B. auch Abed Schokry, der am 8.9. da war. Der hatte in Darmstadt studiert und sein Diplom in Maschinenbau gemacht, dann in Berlin promoviert und ist heute Professor in Gaza. Er ist sehr offen und sagte auf unserer Veranstaltung: „Ich versuche mich von Hass frei zu halten, denn Hass führt zu nichts.“ Ich hatte auch auf einer der Pro-Gaza-Demonstrationen der letzten Zeit am Anfang erklärt, dass Krieg – egal auf welcher Seite -  nie gerecht sein kann. Und wir wissen von den biblischen Propheten, dass nur Gerechtigkeit Frieden schafft. Und das fehlt einfach. Das erinnert mich daran, dass wir 1989 als Gast den prominenten Religionsphilosophen Jeschajahu Leibowitz bei uns in Darmstadt begrüßen konnten, der unserer Einladung nach Deutschland gefolgt war. Und auch der kürzlich leider missglückte Vortrags- und Musikabend mit dem palästinensischen Duo Viola Raheb und Marwan Abado in der Paulskirche geht auf unsere Initiative zurück.
Wir hatten außerdem 2012 eine Ausstellung zur Nakba (Katastrophe), zu Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948. Damit haben wir uns auch den Vorwurf der Einseitigkeit eingehandelt, weil sie sich eben ganz auf das palästinensische Flüchtlingsproblem konzentriert. Es gab kleinere Proteste, aber in Darmstadt ging das ziemlich problemlos über die Bühne. In anderen Städten war das anders, bis hin zu Verboten. In Freiburg glaube ich, konnte sie erst nach einem Gang vor das Verwaltungsgericht gezeigt werden. Und als nächstes geht es wieder um ein Austauschprojekt: Der Berliner Verein „Augenhöhe“ stellt in der Interkulturellen Woche seinen Austausch von Freiwilligen aus Palästina in sozialen Projekten in Deutschland - und umgekehrt - vor. Drei weitere Veranstaltungen werden im Herbst folgen.

Frage: Gibt es aktuell Kontakte nach Israel/Palästina?
 

J.Borgetto: Selbstverständlich. Ich habe nach wie vor meine Kontakte in das gemischte Dorf „Neve Schalom / Wahat al Salam“, dann u.a. zu Gadi al Gazi, einem jüdischen Professor und Menschenrechtler in Israel. Er war letztes Jahr hier und hat uns über die Vertreibung der Beduinen aus dem Negev berichtet, über die mehr oder weniger zwangsweise Sesshaftmachung eines Nomadenvolkes. Auch Jeremy Milgrom von den Rabbinern für Menschenrechte zählt zu unseren Freunden. Kontakt haben wir natürlich auch weiter zu Abed Schokry in Gaza und zu einer ganzen Reihe anderer Menschen, z.B. zu Sumaya Farhat-Naser aus Bir Zeit, Trägerin des Aachener Friedenspreises. Ein Projekt, das ich auch mit initiiert habe sind die „Ferien vom Krieg“, seit 2002 durchgeführt vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Da wird jüdischen und palästinensischen jungen Erwachsenen die Möglichkeit gegeben abseits vom Konflikt in Deutschland  in gemeinsamen Gruppen sich kennen zu lernen.

Frage: Gibt es bei Ihnen Vorstellungen, wie der Konflikt überhaupt zu lösen wäre?

J. Borgetto: Da kann ich nur mit Rolf Verleger (bis 2009 Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden, dann wegen Kritik am militärischen Vorgehen des israelischen Staates und am Verhalten des Zentralrates abgewählt. Mitarbeit an der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“) sagen, dass sich Israel einmal eingestehen müsste, dass die Staatsgründung natürlich Unrecht geschaffen hat. Und dafür müssten sie sich als allererstes einmal entschuldigen. Das heißt nicht, dass sie weg gehen sollen. Viele glauben aber, damit würde dem Staat Israel die Legitimation entzogen. Das kann ich aber nicht sehen. Der Staat ist doch so absolut etabliert. Die Generation der „kritischen Historiker“, hat sich mit der Gründungsgeschichte des Staates „mythenfrei“ beschäftigt. Ilan Pappé hat das so konsequent getan, das es ihm schließlich in Israel seinen Job gekostet hat. Er wurde praktisch weggemoppt und ist heute anerkannter Professor in England.

Frage: Ist eine Zweistaaten-Lösung heute eigentlich noch realistisch angesichts der weitgehenden Zerstückelung des Westjordanlandes durch israelische Siedlungen?
 

J.Borgetto: Ja, was ist realistisch? In Israel gibt es ein altes Sprichwort: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“. Was wäre die Alternative? Das wäre ein einheitlicher Staat. Aber wie könnte der aussehen? Entweder mit gleichen Rechten für alle, dann wären die Juden wahrscheinlich in der Minderheit und das würden sie nicht akzeptieren. Oder ein Staat mit jüdischer Dominanz, was aber bedeuten würde, dass fünf Millionen Palästinenser nicht die gleichen Bürgerrechte kriegen. Antworten darauf bleiben aber diejenigen schuldig, die heute die Siedlungspolitik betreiben. Wobei es natürlich noch die ganz Radikalen gibt, die die Araber vertreiben wollen. Wenn es irgendwie zu einem menschenwürdigen Ergebnis kommen sollte, kann es eigentlich nur eine Zweistaatenlösung geben.

Frage: In letzter Zeit ist der Nahostkonflikt hauptsächlich durch den Krieg um Gaza in die Schlagzeilen geraten. Wie sehen Sie politische Situation in Gaza ?
 

J.Borgetto: Das hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie Israel den Gazastreifen verlassen hat. Da dachte ich zuerst „Na Klasse“; ich hoffte da würde Platz für die vielen Flüchtlinge, die ja noch immer sehr beengt in den Lagern hausen. Aber was macht die Regierung Scharon? Sie zerstören alles, machen alles platt, den gesamten Wohnraum, der dort in den israelischen Siedlungen geschaffen wurde. Sie wollten den Palästinensern nichts hinterlassen. Was wäre das für eine Friedensgeste Israels gewesen, Gaza zu verlassen und den Menschen dort den Wohnraum zu überlassen. Dann könnten einmal palästinensische Flüchtlinge jüdische Siedlungen übernehmen, wie nach 1948 umgekehrt jüdische Flüchtlinge arabische Dörfer übernommen haben. Als dann die Palästinenser die stehen gebliebenen Synagogen zerstörten, war die Empörung groß. Aber was kann man da anderes erwarten, in einer solchen Situation von Frustration und Perspektivlosigkeit? Genau so ist es mit den Geschossen, die aus Gaza in Israel einschlagen. Da heißt es: „Jetzt sind wir aus dem Gaza raus und zum Dank schießen sie Raketen auf uns“. Ja natürlich sind sie raus gegangen. Aber ich habe damals schon gesagt, dass sie rausgehen, um das Schussfeld freizumachen und damit der Gazastreifen dann komplett abgeschlossen werden kann. Als Vorwand hat man dann noch die Hamas gebraucht, aber genau das ist passiert. Und wenn man Menschen derart abschließt, ihnen jede Bewegungsfreiheit und ein Mindestmaß an Lebensqualität nimmt, dann ist es kein Wunder, dass sich die Menschen dagegen wehren. Ich finde Gewalt prinzipiell schlecht, aber ich kann das verstehen. Bei den Gedenkfeiern zum Warschauer Aufstand sagte Bundespräsident Gauck, die bewaffnete Erhebung gegen die Besatzung sei ein wichtiger Sieg gegen die Ohnmacht gewesen und habe für viele Polen als solcher mehr gezählt als die Niederlage. Da findet er es ganz toll. Aber wenn es um Gaza geht, dann ist es immer nur die „böse, radikal-islamische Hamas“.

Frage: In einem Flugblatt zum Gaza-Krieg hat der „Israel Palästina Solidaritätskreis“ gefordert, die Bedingungen der Hamas für einen Waffenstillstand zu übernehmen.
 

J.Borgetto: Da kann ich nur Gideon Levi zitieren, in Israel prominenter Journalist, der hat in der linksliberalen Zeitung Ha’aretz geschrieben, er finde nichts Vernünftigeres als diese Forderungen, auch wenn sie von der Hamas erhoben worden sind. Da geht geht es nur um Verbesserung der Lebensqualität. Die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“ hat sich diese Forderungen zu Eigen gemacht und wir haben das in unserem Flugblatt unterstützt. Da ging es nicht um grundsätzliche Fragen wie etwa die Rückkehr der Flüchtlinge, sondern nur um ganz praktische Dinge. Wenn das dann als Maximalforderung abgetan wird, wie es auch das Darmstädter Echo macht, dann stärkt das die Hamas. Wenn den Menschen in Gaza ein einigermaßen menschenwürdiges Leben ermöglicht würde, würde die Hamas sofort von der Bildfläche verschwinden oder sie würde sich so verändern, dass sie nicht wiederzuerkennen wäre. Das haben wir bei den jüdischen Terrororganisationen aus der Zeit der Staatsgründung ja auch erlebt. Auch Hamas könnte sich dann wieder auf ihre sozialen Aktivitäten konzentrieren.

Reinhard Raika
15.09.2014