Situation in der Altenpflege

Darmstadt an der Spitze des Eisbergs des Pflegenotstands

Darmstadt ist die einzige Stadt in Hessen, in der in den Jahren 2013 bis 2015 die Anzahl der Pflegebetten zurückgegangen ist. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen sank in diesem Zeitraum von 1.289 auf 1.204. Die Zahlen ergeben sich aus einer Antwort auf die Anfrage der Linken im Hessischen Landtag vom 9.8.2017. Nach Angaben der Sozialdezernentin Akdeniz ist die Zahl in Darmstadt aktuell weiter auf 1.182 gesunken. Wegen der hohen Nachfrage nach Altenheimplätzen haben einzelne Träger schon Wartelisten eingeführt.

Die Knappheit an Altenheimplätzen resultiert aus der Schließung des Kurt-Steinbrecher-Hauses in Eberstadt (betrieben von der AWO) im Jahr 2014 und des Wilhelm-Röhricht-Hauses der Diakonie im gleichen Jahr. Die Neueröffnung des AWO-Altenheimes in der Kasinostraße hat diesen Verlust an Plätzen nicht ausgleichen können. Ablesbar ist die angespannte Situation in Darmstadt auch an der sinkenden Zahl der beschäftigten AltenpflegerInnen, die von 2013 auf 2015 von 315 auf 274 Beschäftigte zurück ging.

Zuspitzung im gesamten Hessen

Die Entwicklung in der Altenpflege ist zwar in Darmstadt besonders alarmierend, doch auch die Zahlen für Hessen sind besorgniserregend. Aus der Anfrage der Linken geht hervor, dass in den zwei Jahren von 2013 bis 2015 die Zahl der nicht besetzten Stellen in der Altenpflege um 30 Prozent gestiegen ist. Der Bedarf von AltenpflegerInnen bis 2030 wird, gemessen am Beschäftigungsstand 2013, auf 4.748 Vollkräfte geschätzt. Wird der altersbedingte Ersatzbedarf durch die ausscheidenden Pflegekräfte hinzugerechnet, müssen bis 2030 9.454 Vollkräfte eingestellt werden.

„Aufwertung“ der Altenpflege erfordert konkrete Maßnahmen

Auf die sich abzeichnende Pflegekatastrophe reagiert die Politik mit unzureichenden Maßnahmen und im Prinzip mit einem „weiter so“. Wissenschaftliche Untersuchungen des deutschen Pflegerats bereits aus dem Jahr 2012 kommen zu dem erstaunlichen Ergebnis, „dass es in der Pflege gegenwärtig keinen Fachkräftemangel gibt, sondern vielmehr einen Mangel an adäquaten Vollzeit­arbeitsplätzen und vor allem an Arbeitsbedingungen, die eine langfristige Voll­zeitbeschäftigung ohne Beeinträchtigung der Gesundheit ermöglichen“ und „offensichtlich gibt es bei den Pflegefachkräften ein erhebliches Arbeitszeitpo­tenzial, das gegenwärtig nicht genutzt wird bzw. verfügbar ist.“

Die Erklärung für diesen scheinbar paradoxen Befund ist einfach: Viele der ausgebildeten Fachkräfte scheiden aus dem Beruf aus,

  • weil ihnen die Bezahlung zu gering ist (die Bezahlung in der Altenpflege liegt um 20 % niedriger als die eh schon unzureichende Vergütung in der Krankenpflege),
  • weil sie oft nur Teilzeitstellen angeboten bekommen und damit keine Familie ernähren können (der Anteil der Teilzeitstellen beträgt in den Altenheimen 62%),
  • weil ihnen die Arbeitsbedingungen unerträglich sind und sie sich nicht vorstellen können, diesen Beruf bis zur Verrentung ausüben zu können (nach einer Untersuchung des DGB können sich das lediglich 20 % der Beschäftigten vorstellen),
  • weil sie keine planbares Frei mehr haben und die Familie und das sozial Leben darunter leiden,
  • weil sie, wenn sie lange durchgehalten haben, wegen Erkrankungen vorzeitig berufsunfähig werden (die Frühberentungsquote in der Altenpflege liegt bei ca. 35 %).

Eine von allen Politikern beschworene „Aufwertung“ der Pflegeberufe erfordert konkrete Maßnahmen:

  • Reduzierung der Arbeitsbelastung durch Erhöhung der Stellenpläne,
  • Vollzeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse als Regelfall,
  • faire Entlohnung,
  • Schaffung geeigneter Arbeitsplätze für ältere Pflegekräfte.

Deutscher Pflegerat: hohes Potential an Pflegekräften

Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, erklärte am 19.9.17 im Deutschlandfunk:

„Wir haben Zehntausende von Menschen, die haben eine Pflegeausbildung, die arbeiten nicht mehr in dem Beruf,weil sie sagen, nicht unter diesen Bedingungen. Wenn ich angesichts des Mangels Personalausstattung verbessern würde, mehr Stellen schaffen, was erst mal paradox klingt, wenn ich schon die vorhandenen nicht besetzen kann, hätte ich aber eine Chance, dass die Menschen, die dort arbeiten oder nicht mehr arbeiten, sagen, jetzt hat sich tatsächlich etwas verändert, es ist leichter, ich kann es besser aushalten, die Arbeitsbelastung, und ich habe auch wieder mehr Zeit, das zu tun, was ich eigentlich gelernt habe, das zu tun, was die  Menschen auch brauchen, als nur zu hetzen von Bett zu Bett, von Bewohner zu Bewohner, von Wohnung zu Wohnung, dann, glaube ich, hätten  wir kurz- und mittelfristig ein hohes Potenzial.“

 

Erhard Schleitzer
25.09.2017