Gegen eine Superideologie namens Digitalisierung

Erstaunliches Buch der Vorstandsvorsitzenden von ENTEGA

„Die Anbetung“ heißt der Titel dieses ganz wichtigen, kritischen und augenöffnenden Buches. Geschrieben hat es Marie-Luise Wolff, Vorstandsvorsitzende der Darmstädter Entega-AG. Sie fordert nichts weniger als „ein radikales Umdenken und ein Ende der Anbetung digitaler Trugbilder, die weder Fortschritt noch Werte schaffen. … Mit der Worthülse Digitalisierung haben die Datenmonopolisten eine neue Superideologie erfunden, die alles rechtfertigt, was sie tun. Der digitale Konsument wird zunehmend selbst zum Produkt und Instrument der Algorithmen.“ - so heißt es im Klappentext.

Das Buch sollte Pflichtlektüre für alle Digitalisierungs-Besessene und Smartphone-Junkees sein. Wolff analysiert die „Erosion der Kommunikation“ und die Plattformökonomie der digitalen Kraken Google, Apple, Facebook und Amazon („GAFA“) mit ihrem „Netzwerk an Nötigungen, das um uns herum aufgebaut wird.“ Sie prangert das „recht brutale Zerstörungsmodell des dezentralen Dienstleistungssektors“ an mit der „blutigen Spur, die sich schon heute durch verödete Innenstädte und Ortskerne“ zieht. Sie charakterisiert Typen, wie den „hyperaktiven, cholerischen und digital begabten … Managerpopulisten“ Elon Musk, der mit Tesla rund 13 Milliarden $ Schulden aufgehäuft hat. Sie problematisiert die „Künstlichkeit der künstlichen Intelligenz“.

Man gelangt spätestens mit diesem Buch zur Erkenntnis , dass zwischen der Totalüberwachung der Menschen durch das „Social-Credit-System“ in China und der unkontrollierten „destruktiven Wucht“ digitaler Monopole im Westen sukzessive kaum noch qualitative Unterschiede bestehen. Die engen Verbindungen der westlichen Digitalkraken mit staatlicher Überwachung und Geheimdiensten sind ja schon durch Edward Snowden offen gelegt worden. In China agieren private Datenkonzerne nach Muster der „GAFA“ mit Namen ALIBABA (chinesisches Amazon), BAIDU (wie Google), TENCENT (wie Facebook), die sowohl „ihre gesamten Datenschätze als auch Datenanalysesysteme“ mit der chinesischen Staatsregierung teilen. Auch der Datenschutz im Westen ist längst ohnmächtig und hoffnungslos abgehängt.

Natürlich kann man von einer deutschen Konzernchefin, die sich zu „Markt und Marktwirtschaft“ bekennt, keine tiefergreifende Kapitalismuskritik erwarten. Von daher ist ein gewisser nostalgischer Zug zu guten alten analogen Wirtschaftszeiten nicht verwunderlich. Neben ihrer brillianten, bis in kultursoziologische und massenpsychologische Aspekte reichenden Analyse schließt sie das Buch mit einem „Wegweiser im persönlichen Umgang mit dem Digitalen“ und Forderungen nach „möglichen strukturellen Maßnahmen der digitalen Bilanz“.

Die blind-ehrfürchtige Digitalisierungsbesessenheit, der die Politik auf allen Ebenen von der EU über die Bundesregierung bis hin zu Oberbürgermeistern, genauso wie die Wirtschaft und die neoliberal formierte Wissenschaft verhaftet sind, führt in der imperialistischen Konkurrenz zwischen den Großmächten bis hin zum Cyberkriegs-Wettrüsten. Es wird höchste Zeit, sich mit der begonnenen digitalen Dystopie (Anti-Utopie) zu konfrontieren, genauso wie mit dem Klimawandel und den anderen unter kapitalistischen Bedingungen unlösbar erscheinenden Krisen.

Marie-Luise Wolff: Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung,

Westend-Verlag 2020, 271 Seiten, 22,00 Euro.

KH Goll
10.10.2020
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