Ohne uns kein Geschäft

Streik- und Aktionstag des Einzelhandels in Darmstadt

Horst Gobrecht, der für den Einzelhandel zuständige ver.di-Sekretär, hatte eine lange Liste vorzulesen. Es war die Liste der Betriebe, aus denen Streikende des Einzelhandels am 19.6. nach Darmstadt kamen, um am Aktionstag teilzunehmen. Sie kamen aus dem ganzen südhessischen Raum, von Viernheim bis Bad Homburg.

Unzureichendes Angebot in der Tarifrunde

Vor allem ging es um den Protest gegen ein unglaublich niedriges und dazu noch spaltendes Angebot des Arbeitgeberseite. Ver.di schreibt in einem Betriebsrats-Info über deren Angebot: „Offenbar sehen sie trotz guter und bester Geschäfte in der Corona-Zeit ihre Chance gekommen, die Angst nicht weniger Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz für eine indirekte Lohnsenkung zu nutzen. Wie sonst ist ein „Angebot“ von 1,0 Prozent Entgelterhöhung bei einer aktuellen Inflationsrate von 2,5 Prozent zu verstehen? Da hilft den Beschäftigten auch eine monatliche Zusatzzahlung von 1,4 Prozent für 10 Monate nicht „über den Berg“. Denn sie „verpufft“ und hat keine dauerhafte Auswirkung auf die Entgelte, sobald sie ausgezahlt und ausgegeben wurde. Schlimmer noch: Die Arbeitgeber wollen die Beschäftigten in „Gewinner“ und „Verlierer“ spalten, um Letzteren noch deutlich weniger an Lohnsteigerung zuzumuten.“ Betriebe, die während Corona schlechtere Geschäfte gemacht haben, sollen weniger und später zahlen müssen. Und das obwohl sie staatliche Zuschüsse erhalten haben.

Wurden die Verkäuferinnen und Verkäufer auf dem Höhepunkt der Pandemie noch als systemrelevant eingeschätzt und ihnen allerlei Versprechungen gemacht, so ist davon letztlich nicht viel übriggeblieben. Vor allem die flott von den Lippen gehende „Wertschätzung“ spielt in den Tarifverhandlungen keine Rolle mehr.

Grundlegende Probleme für Beschäftigte im Einzelhandel              

Im Einzelhandel gibt es für ver.di neben der aktuellen Tarifrunde jedoch noch wichtigere Knackpunkte. So schwindet die Tarifbindung der Betriebe rasant. Arbeiteten 2007 noch 70 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, so waren es 2017 noch 40 Prozent und heute nur noch 28 Prozent. Bis 1999 war es zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Konsens, dass für die ausgehandelten Tarifverträge die Allgemeinverbindlichkeit beantragt wurde. Dieser Konsens wurde im Jahr 2000 aufgekündigt. Die Verbände hatten sich damals auch für Betriebe geöffnet, die keinen Tarif zahlen wollten. Ver.di fordert heute erneut die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags zu beantragen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ging entsprechend zurück. Zwischen 2001 und 2018 verlor ver.di 38 Prozent seiner Mitglieder im Einzelhandel.

Durch die Corona-Pandemie hatte sich die prekäre Lage im Einzelhandelt noch verschärft. Viele Betriebe mussten über Monate hinweg schließen und der Onlinehandel bot sich als Alternative an. Die Beschäftigten erhielten Kurzarbeitsgeld oder wurden gleich entlassen. Die Personaldecke wurde „ausgedünnt“. Überlastung ist eine häufig zuhörende Klage im Einzelhandel, die Geschäftsführungen aber behaupten, es sei überall viel zu viel Personal da.

Diese Probleme im Einzelhandel machen es den Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft schwer Forderungen durchzusetzen. Umso bewundernswerter ist die Courage derjenigen, die sich an diesem Streik beteiligt haben. Sie können nicht zu Hunderten den Betrieb verlassen und so bei einem Streik kaum auffallen. Sie arbeiten meist in kleinen Betrieben und müssen persönlich zu ihrer Streikbereitschaft stehen.

Die beschriebenen Zustände bedeuten, dass die Gewerkschaft nur begrenzte Möglichkeiten hat, durch Streiks wirtschaftlichen Druck auszuüben. Eine Unterstützung von außerhalb der Branche wäre daher sehr wichtig. Die abnehmende Tarifbindung betrifft fast alle Branchen. Der Erhalt und die Ausdehnung der Flächentarifverträge müsste somit ein Anliegen der gesamten Gewerkschaftsbewegung sein. Doch davon war erstaunlich wenig zu spüren. Nur sehr sehr wenige Kolleg*innen aus anderen ver.di-Fachbereichen waren anwesend, und aus dem nichtgewerkschaftlichen Spektrum waren nur Mitglieder der Linkspartei anwesend, um ihre Solidarität zu bekunden.

Sonderfall Douglas

Angesichts der Erosion des Flächentarifvertrags ist es besonders wichtig, dass es in einer Kette jetzt Bestrebungen gibt, die Geschäftsführung zu einer Rückkehr in den Tarifvertrag zu bewegen. Die Firma Douglas stieg 2018 aus dem Tarifvertrag aus, zahlte zuerst niedrigere Lohnerhöhungen und später überhaupt keine mehr. Die Löhne liegen heute 2,8 Prozent unterhalb des Tarifvertrags.

Gleichzeitig gab das Unternehme bekannt, über 50 Filialen schließen zu wollen. Die betroffenen Kolleg*innen will Douglas nicht auf freie Stellen in anderen Filialen versetzen, sondern entlassen. Auch das ist ein Grund für das besondere Engagement bei Douglas. Beschäftigte aus elf Filialen beteiligten sich am 19.6. am Streik- und Aktionstag. Vor der Darmstädter Filiale gab es eine Zwischenkundgebung, auf der Katja Deusser von ver.di auf die Situation der dort Beschäftigten hinwies. Einige der dort arbeitenden Kolleginnen reagierten mit sichtlicher Sympathie auf die Aktion vor ihrer Tür.

Reinhard Raika
21.06.2021
Schlagwörter: