Finanzamt Darmstadt bedroht die Gemeinnützigkeit des Nachbarschaftsvereins in der Postsiedlung

Vorher stellte die AfD Strafanzeige gegen den Vorsitzenden des Vereins
Erhard Schleitzer

Der Verein „Zusammen in der Postsiedlung“ erhielt vor wenigen Wochen ein Schreiben vom Finanzamt Darmstadt. In dem Schreiben heißt es:

“Gemeinnützigkeit für das Jahr 2024: Aufgrund des Umfangs der Flugblattaktionen (Anzahl der gedruckten Flyer) gehe ich davon aus, dass hier eine Fehlverwendung von Vereinsmitteln vorliegt. Da die Flugblattaktionen nicht der Erfüllung der Vereinszwecke dienen, dürfen hierfür keine Mittel des Vereins eingesetzt werden (…) Es sind also nur Tätigkeiten zulässig, die auf Gefahren für die Demokratie hinweisen. Nicht zulässig ist jedoch eine konkrete Befürwortung oder Ablehnung einzelner Parteien und deren Programme als solches.”

Der Verein wird von dem Finanzamtes dazu aufgefordert, sämtliche Vereinsgelder in diesem Kontext auszugleichen. Die Vorstandsmitglieder kamen dem nach durch Überweisung der Beträge von ihren privaten Konten. Bisher machte das über 1500 Euro aus.

Was hat das Finanzamt beanstandet? Der Verein hatte Flugblattaktionen durchgeführt, z. B. wurden 12.000 Flugblätter in in dem Quartier Darmstadt-West (Heimstättensiedlung, Verlegerviertel, Industriegebiet Süd, Quartier in und um die Postsiedlung und Alt-Bessungen) verteilt, welche den Aufruf beinhalteten, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen und demokratische Parteien zu wählen (s. Anlage).

Zur Gemeinnützigkeit eines Vereines gehört nach geltendem Recht das Neutralitätsprinzip. Da sich der Nachbarschaftsverein mit seinen Flugblattaktionen politisch äußere, habe er – wie das Finanzamt meint - seine Neutralität verletzt, weil dies nicht der Verfolgung seiner gemeinnützigen Zwecke diene.

Das Problem ist nicht auf Darmstadt beschränkt. Campact startet aktuell eine Kampagne „Zivilgesellschaft ist gemeinnützig“ und weist eindringlich auf die Gefahr von politisch engagierten Vereinen hin: „Unsere Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft – und ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht. Gemeinnützige Organisationen müssen sich an der politischen Debatte beteiligen dürfen, ohne den Verlust ihrer Gemeinnützigkeit zu riskieren.“  Der Bundesfinanzhof urteilte 2019, dass Attac seine Gemeinnützigkeit verliert, weil Tätigkeiten, die darauf abzielen, politische Entscheidungen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, nicht gemeinnützig sind. Auch Campact wurde die Gemeinnützigkeit entzogen. Nun auch der Nachbarschaftsverein „Zusammen in der Postsiedlung“?

Eine aktuelle Umfrage von ZiviZ (Zivilgesellschaft in Zahlen) ergibt, dass rund 30.000 Organisationen aus Angst um ihren Gemeinnützigkeitsstatus politisch weniger aktiv sind. Rechtsextreme Parteien und Politiker, fördern diese Entwicklung gezielt, indem sie gemeinnützige Organisationen, die sich politisch gegen rechts engagieren, bei den Finanzämtern anzeigen. So auch in Darmstadt bei den Aktivitäten des Vereins „Zusammen in der Postsiedlung“.

Die AfD stellte Anzeige gegen den Nachbarschaftsverein

Die o. g. Flugblattaktion hatte eine Strafanzeige der AfD Darmstadt gegen Bastian Ripper, den Vorsitzenden des Vereins, zur Folge. Das AfD-Vorstandsmitglied Siegfried Elbert zeigte am 7.2.24 den Vorsitzenden des Nachbarschaftsvereins an, mit der Begründung, der Verein würde in dem Flugblatt öffentlich zu Straftaten aufrufen (s. Flugblatt in der Anlage „Demokratie in Gefahr). Als Beweis wurde ein Zitat von Erich Kästner angeführt, dass in dem Flugblatt abgedruckt wurde.

“Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zer­treten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unse­ren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluss meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.”

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt lehnte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab, wie dem Verein per Brief mitgeteilt wurde.

Dieser Bescheid ist erfreulich – wenn da nicht das Finanzamt Darmstadt wäre.

 

PS1: die Aktiven vom Postsiedlungs-Verein haben ein finanzielles Problem:
https://www.postsiedlung.de/blog/2024/09/04/quartier-post-vom-finanzamt-zu-unserem-demokratie-engagement/

Mit einem Überblick über die Aktivitäten des Vereins.

 

PS2: Campact startet aktuell eine Kampagne: "Zivilgesellschaft ist gemeinnützig!"                         https://www.campact.de/gemeinnuetzigkeit
 
 


 

12.09.2024