Geliebtes Elend

Studierende aus Darmstadt treffen palästinensische Aktivisten

Der Ostjerusalemer Stadtteil Silwan bietet ein trostloses Bild. In den engen Gassen türmt sich der Müll, die Wände sind mit Graffitis besprüht. Je höher die Sonne steigt, desto penetranter wird der Geruch der Abfälle. Dann ist kaum jemand auf den Straßen.

Inmitten dieses Elends bahnt sich ein Grüppchen Europäer den Weg durch die Gassen. Es handelt sich größtenteils um Studierende der Technischen Universität Darmstadt, bei ihnen sind einige Dozenten und ein israelischer Reisebegleiter. Die Studierenden befinden sich auf einer Exkursion des Evenari-Forums für Deutsch-Jüdische Studien der TU. Zwei Wochen lang reisen sie durch Israel, um einen Einblick in die Geschichte des Landes und den Nahostkonflikt zu bekommen. Hauptthema der Exkursion ist die Wasserversorgung in einer Region, die zu 60 Prozent aus wüstenähnlichen Gebieten besteht. Insgesamt sind zwanzig Studierende aus den Bereichen Geschichte, Politik, Geologie und Umwelttechnik vertreten.

Die Studierenden aus Darmstadt haben ihr Ziel erreicht: Ein unscheinbares Gebäude an der Kreuzung zwischen einer engen Gasse und der Hauptstraße. Hier ist das Wadi Hilwah Information Center untergebracht, eine gemeinnützige Einrichtung, deren Ziel es ist, die Welt über die Lage in dem Stadtteil zu informieren. Davon abgesehen erfüllt das Zentrum die Aufgaben eines Jugendzentrums: Die Heranwachsenden Silwans haben hier Zugang zum Internet und zu Büchern. So sollen sie von der Straße ferngehalten werden.

Jouad ist der Leiter des Zentrums. Der hagere Mann mit Glatze und Dreitagebart hat einen Verband am linken Fuß, er ist kürzlich auf der Straße gestolpert. "Die Israelis haben mir diese Verletzung nicht beigebracht, indirekt sind sie aber trotzdem Schuld daran", versucht er zu scherzen," Die Straßen sind wegen ihnen so schlecht." Jouad steht umringt von den Darmstädter Besuchern in einem kleinen, aber gut belüfteten Raum mit Holzwänden. Hinter sich hat er eine Karte von Silwan aufgetellt. "Es leben etwa 55.000 Menschen in diesem Stadtteil", erklärt er, " Nach dem Sechstagekrieg 1967 flohen etwa vier- bis fünftausend Araber aus Akkon und Lod hierher. Offiziell sind sie immer noch Flüchtlinge und können jederzeit ins Westjordanland oder in die arabischen Nachbarländer abgeschoben werden." Einige Studierende wundern sich. Wieso wollen die Menschen unbedingt hierbleiben? Hier, wo sie laut eigener Aussage keine Baugenehmigungen für neue Wohnhäuser oder kulturelle Einrichtungen bekommen und keinen Zugang zu Behörden haben? Hier, wo es nach Müll riecht und die Leute auf den schlechten Straßen stürzen? "Das hier ist unser Zuhause", antwortet Jouad. "Ich habe eine Zeit lang in Deutschland gelebt. In dieser Zeit wurde mir klar, wo ich hingehöre". So wie Jouad denken viele hier in Silwan, das seit Jahrhunderten von Araber_innen besiedelt ist. In ihrer umkämpften Heimat haben die Bewohner_innen der Siedlung einiges zu ertragen. Seit Israel 1967 trotz des Protests der Internationalen Gemeinschaft Ostjerusalem annektierte, gelten sie als staatenlos. Es gibt hier nur wenige Arbeitsplätze, Touristen verirren sich nur selten hier her. "Die israelischen Behörden wollen uns hier weg haben um das Stadtviertel alleine nutzen zu können", klagt Jouad. Tatsächlich gab es hier Fälle, in denen Palästinenser vertrieben wurden, um für israelische Siedler Platz zu machen. Am nördlichen Ortsrand, zur Altstadt von Jerusalem hin, finden archäologische Ausgrabungen statt, denen mehrere Wohnungen der Anwohner weichen mussten, zudem wurden bei den Arbeiten muslimische Gräber geplündert. Die Frustration über diese Behandlung ist besonders unter den Jugendlichen stark, oft gibt es Zusammenstöße mit den israelischen Sicherheitskräften. Auch das Informationszentrum wurde schon von der Polizei gestürmt. "Warum haltet ihr eure Kinder nicht davon ab, Steine zu werfen?", schaltet sich Eli, der Reisebegleiter der Darmstädter Studierenden ein, "So kommen keine Touristen hierher, und ihr Geld auch nicht." Jouad tut diesen Einwurf mit einem Kopfschütteln ab. "Wir verurteilen Gewalt", stellt er klar, "Aber wie sollen wir unsere Kinder am Steine werfen hindern, wenn wir selbst im Gefängnis sitzen?" Die Darmstädter Studierenden verfolgen den kurzen Disput mit nachdenklichen Mienen.

Ahmad, ein Mitarbeiter Jouads, zeigt den Besucher_innen ein Video. Ahmad arbeitete früher außerhalb von Silwan als Lastwagenfahrer, bis ihn ein Polizist ins Bein schoss. Seitdem humpelt er. Das Video zeigt die Straßenschlachten der Bewohner _innen Silwans mit der Polizei, Kinder werden verhaftet. Es ist zu sehen, wie israelische Sicherheitskräfte Jouad herum schubsen, in demselben Raum, in dem jetzt die Besucher_innen aus Darmstadt sitzen. Gegen Ende des Films sehen sie, wie ein israelischer Siedler mit seinem Auto einen Jugendlichen anfährt. Im Hintergrund läuft melodramatische Musik. Jouad räumt ein, dass dieser Vorfall inszeniert war: Die Aktivisten hätten die Kamera bereitgestellt und den Siedler provoziert, da abzusehen gewesen sei, dass er so reagieren würde. Die Verbissenheit der Palästinenser rührt auch daher, dass sie sich auf sich selbst gestellt sehen. Sie werden zwar durch Onlinespenden finanziert und durch einige wenige europäische Organisationen unterstützt. Die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah darf ihnen jedoch nicht helfen und mit israelischen Organisationen wollen sie nicht zusammenarbeiten. "Wir haben nichts gegen die Israelis", versichert Jouad, "Aber unsere Ausgangslagen sind zu unterschiedlich. Sie sollen sich um ihre Sachen kümmern, wir kümmern uns um unsere."

Nach dem Gespräch mit Jouad besichtigen die Studierenden das Zentrum, das außer dem Vortragsraum einige kleine Büros, einen Computerraum und eine Bibliothek beherbergt. In dem Leseraum stehen Handarbeiten von Jugendlichen, die ihre Hände nicht mehr zum Steine werfen benutzen wollen.

Unter den Studierenden entflammen Diskussionen über das Gesehene und Gehörte. Werden die Menschen hier wirklich so ungerecht behandelt? Oder war das alles Propaganda? "Um diesen Konflikt zu verstehen, müsste man wohl hier leben", sagt ein Historiker. "Es wäre interessant, auch die Meinung der jüdischen Einwohner Silwans zu hören", ergänzt ein Politikstudent. Letzteres ließ sich jedoch im Vorfeld nicht organisieren – vielleicht aber bei zukünftigen Exkursionen. Es scheint, als hätten die Darmstädter_innen nach ihrem Besuch mehr Fragen als zuvor. In jedem Fall hat das Wadi Hilwah Information Center sein Ziel erreicht: Es hat seine Besucher_innen zum Nachdenken angeregt.

Informationen über Silwan gibt es im Internet unter http://www.silwanic.net. Informationen zum Evenari-Forum gibt es unter http://www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=643.

Konrad Bülow
12.10.2012
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